Am 5. Juli 2024 hatte der NRW-Landtag das Kommunalwahlgesetz geändert und dabei das Verfahren zur Ermittlung der Sitzverteilung in den Räten vom bislang angewandten Standard-Rundungsverfahren nach „Sainte-Laguë“ auf ein so genanntes „Quotenverfahren“ umgestellt.
Nach Ansicht der sich nunmehr benachteiligt fühlenden kleineren Parteien handelt es sich hierbei um einen machtpolitischen „Schachzug“ der größeren Parteien CDU, SPD und B90/Die Grünen , um kleinere Parteien möglichst aus den kommunalen Bürgervertretungen herauszuhalten oder zumindest in ihren demokratischen Aktivitäten zu beschneiden.
Dagegen reichten bislang diese vier Parteien – unabhängig voneinander – beim NRW-Verfassungsgerichtshof (VerfGH) in Münster Klage ein:
- VOLT NRW – VOLT Deutschland Landesverband Nordrhein-Westfalen (29.08.2024)
- PIRATEN NRW – Piratenpartei Deutschland Landesverband Nordrhein- Westfalen (22.10.2024)
- BSW NRW – „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ Landesverband Nordrhein-Westfalen (31.10.2024)
- FDP NRW – Freie Demokratische Partei, Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V. (15.11.2024)
Die Ersetzung des bisher bei Kommunalwahlen angewendeten Sitzverteilungsverfahrens nach Sainte-Laguë durch ein Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich verletze sie in ihren Rechten auf Chancengleichheit als politische Partei und die Gleichheit der Wahl.
Ähnliche Bestrebungen der „größeren“ Parteien hatte es schon früher gegeben, als diese versucht hatten in NRW eine Sperrklausel einzuführen.
Seinerzeit hatte der Verfassungsgerichtshof des Landes zuerst die Fünf-Prozent-Hürde und schließlich auch die 2,5-Prozent-Hürde gekippt.
Kern dieses Streits sind die so genannten „halben“ Sitze, die nach Sainte-Laguë regelmäßig auf einen ganzen Sitz im Rat aufgerundet wurden.
Der Landtag hat nun das Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich eingeführt.
„Dies führt dazu, dass es schon zur Kommunalwahl 2025 schwieriger wird, ein Mandat zu erringen. Kleine Parteien und Wählergemeinschaften werden hierdurch einseitig benachteiligt“, erklärt beispielsweise VOLT.
Das Sainte-Laguë-Verfahren
Das Verfahren nach Sainte-Laguë findet seit 2010 in Nordrhein-Westfalen Anwendung.
Bei diesem Verfahren, auch Divisormethode mit Standardrundung genannt, werden die jeweiligen Anzahlen der Zweitstimmen für die einzelnen Parteien durch einen gemeinsamen Divisor geteilt.
Die sich ergebenden Quotienten werden standardmäßig zu Sitzzahlen gerundet, das heißt bei einem Bruchteilsrest von mehr als 0,5 wird auf-, bei weniger als 0,5 wird abgerundet, bei einem Rest von genau gleich 0,5 entscheidet das Los.
Der Divisor wird dabei so bestimmt, dass die Sitzzahlen in der Summe mit der Gesamtzahl der zu vergebenden Mandate übereinstimmen.
Das Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich („Rock-Verfahren")
Dieses Verfahren baut auf der „Hare-Quote“ auf, dem Quotienten aus Gesamtstimmen und Gesamtsitzen.
Werden die Stimmen einer Partei durch die Hare-Quote geteilt, gibt die Ganzzahl des Quotienten an, wie oft die Hare-Quote erfüllt ist; diese Zahl an Sitzen erhält die Partei in der Hauptzuteilung.
Von den verbleibenden Sitzen geht je einer an diejenigen Parteien, deren Quotienten die höchsten Bruchteilsreste aufweisen.
VOLT hat ermittelt:
„Wäre die nun beschlossene Regelung schon bei der letzten Kommunalwahl (2020) angewendet worden, hätte die Union 184 Sitze mehr gewonnen. Auch die SPD mit zusätzlichen 84 Mandaten und die Grünen mit 51 Mandaten hätten profitiert.“ (Zitat Ende)
Um diese Benachteiligung kleiner Parteien und Wählergemeinschaften nachzuweisen, hatte die FDP-Fraktion im NRW-Landtag ein
Gutachten zum neuen Verfahren zur Berechnung der Zuteilung von Mandaten
bei Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen (Rock-Verfahren)
in Auftrag gegeben.
Zusammenfassend kommen die Gutachter zu diesen Ergebnissen:
Die Fraktionen der CDU, SPD und von Bündnis 90/Die Grünen haben mit dem Änderungsantrag zum Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes (Drs. 18/9089) ein neues Verfahren zur Sitzvergabe bei den Kommunalwahlen vorgeschlagen, das vom Landtag von Nordrhein-Westfalen am 4. Juli verabschiedet wurde (GV.NRW 2024 Nr. 21 S.444-447).
Beim Verfahren handelt es sich um das nach seinem Erfinder benannten Rock-Verfahren (Rock 2022).
Bei dem Verfahren handle es sich um „ein Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich“, das eine „Mischung aus den etablierten Verfahren Hare-Niemeyer und d’Hondt“ darstelle (Drs. 18/9089: S. 3).
Mit der Einführung des Verfahrens „sollen extreme Verzerrungen der Sitzzuteilung zu Gunsten von Parteien und Wählergruppen, die aufgrund ihres Wahlergebnisses einen Idealanspruch von weit weniger als einen Sitz aufweisen, reduziert und dadurch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen gegenüber dem bisher angewandten Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë verbessert werden.“ (Drs. 18/9089: S. 3)
Die Begründung des Verfahrens beruht allerdings auf einer Reihe von Missverständnissen bezüglich der Wirkung des Sainte-Laguë-Verfahrens und die vom Verfahren bezweckten Verbesserungen werden nicht erreicht.
Im einzelnen ist festzuhalten:
- Die Aufrundungsgewinne kleiner Parteien in der Form, dass wegen des Fehlens einer gesetzlichen Hürde Parteien mit einem Sitzanspruch von ca. einem halben Sitz ein Mandat zugewiesen bekommen können, stellen keinerlei „Verzerrung“ dar.
Schon gar nicht kann daher von „extrem verzerrten Aufrundungsgewinnen von Parteien oder Wählergruppen mit einem Idealanspruch von nur rund einem halben Sitz“ (Drs. 18/9089: S. 4) gesprochen werden.
Ganz im Gegenteil ist das Verfahren von Sainte-Laguë verzerrungsfrei, was sowohl mathematisch bewiesen als auch durch viele empirische Untersuchungen bestätigt ist.
Die Aufrundungsgewinne kleiner Parteien von knapp einem halben Mandat sind vielmehr zwingend notwendig, um für Chancengleichheit der Parteien und Wähler zu sorgen.
Sie stellen keinen Makel des Systems dar, sondern sind Mittel zum Zweck der Herstellung der Erfolgswertgleichheit.
- Umgekehrt vergrößert das neu eingeführte Verfahren die Ungleichheit der Erfolgswerte und stellt insofern eine eindeutige Verschlechterung gegenüber dem vorherigen Verfahren dar.
- Das neu eingeführte Rock-Verfahren führt im Gegensatz zum abgeschafften Sainte-Laguë-Verfahren zu sehr deutlichen Verzerrungen, womit eine systematische Bevorzugung bestimmter Parteien aufgrund eines Kriteriums gemeint ist, das aus normativen Gründen irrelevant sein sollte.
Das neue Verfahren bevorzugt große und größere Parteien, indem es ihnen systematisch die Aufrundungsgewinne zuführt.
Die „Aufrundung“ zum sogenannten „prozentualen Rest“ führt z.B. dazu, dass eine kleine Partei mit einem Anspruch auf 0,95 Sitze gegenüber einer Partei, die mindestens 19 Mandate zugewiesen bekommt, überhaupt keine Chance mehr hat, mit dieser um ein Restmandat zu konkurrieren, unabhängig davon wie groß bzw. klein der Rest bei der zweiten Partei ausfällt.
Beträgt die für ein Mandat benötigte durchschnittliche Stimmenzahl (z.B. 2.000 Stimmen) bedeutet dies konkret, dass eine Partei, die 1.900 Stimmen erhalten hat, bei der Verteilung eines Restmandates gegen eine Partei verliert, die über eine einzige Reststimme verfügt, wenn der ganzzahlige Bestandteil des Idealanspruchs der zweiten Partei mindestens 19 Sitze beträgt.
Damit üben die Wählerstimmen der Anhänger der großen Parteien einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Verteilung der Restmandate aus.
- Zu diesem Vorteil großer Partei und größerem Gewicht von ihren Wählern kommt es dadurch, dass im Zuge des Ausgleichs aufgrund des „prozentualen Rests“ eine doppelte Verwertung von Wählerstimmen vorgenommen wird, was in der Konsequenz zu einer Art von doppeltem Stimmgewicht führt.
Denn die Wählerstimmen der großen Parteien, die schon für die Zuteilung der ganzzahligen Bestandteile des Idealanspruchs (eine Partei mit einem Idealanspruch – von z.B. 19,3 Sitzen erhält im ersten Schritt 19 Sitze – herangezogen wurden, fließen ein zweites Mal bei der Transformation der echten Reste (d.h. der Restbruchzahlen hinter dem Komma) in den sogenannten „prozentualen Rest“ ein und üben einen inflationären Effekt auf diesen aus.
- Das Verfahren ist konzeptionell unstimmig.
Dies beginnt mit der Verwendung des Begriffs des „Rests“ im Konzept des „prozentualen Rests“.
Denn bei diesem handelt es sich in keiner Weise um einen Rest, der nach der Abspaltung des Teils, der für die Zuteilung der Sitze im ersten Schritt übrig bleibt, sondern der „Rest“ wird unter Rückgriff auf „das Ganze“ berechnet.
- Bei dem Verfahren handelt es sich auch nicht um eine Kombination von Hare-Niemeyer und d’Hondt, in dem Sinn, dass nach einer Anfangsphase, in der Hare-Niemeyer angewandt wird, zu d’Hondt geswitcht wird, vielmehr handelt es sich um eine Art von trunkiertem bzw. bedingtem d’Hondt-Verfahren, das praktisch identisch mit d’Hondt ist, solange keine Partei mehr als eines der Restmandate zugeteilt bekommt.
Es ist daher zwangsläufig der Fall, dass das Verfahren wie d’Hondt große Parteien bevorzugt.
Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Bevorzugung auf den Gewinn eines Aufrundungsgewinns beschränkt ist, die Systematik der Bevorzugung ist aber identisch mit der bei d’Hondt auftretenden.
- Durch den Rückgriff bei der Berechnung des prozentualen Rests auf das Ganze kommt es zu einer weiteren Absurdität, so wie das Verfahren im Gesetz beschrieben wird.
Eine Partei, deren Idealanspruch exakt einer ganzen Sitzzahl entspricht, erhält nämlich entsprechend der Verfahrensbeschreibung das erste zu verteilende Restmandat, obwohl sie keine einzige Reststimme besitzt und daher von der Zuteilung der Restmandate eigentlich ausgeschlossen sein sollte.
Das Auftreten dieses Effekts ist zwar eher unwahrscheinlich, macht aber die widersinnigen Elemente des Verfahrens sichtbar.
Im Extremfall könnte es dazu kommen, dass alle Restmandate nur unter Parteien aufgeteilt werden, die überhaupt keine Reststimmen haben.
Ebenso kann es theoretisch zu Phänomenen kommen, die dem gleichen, was in der verfassungsrechtlichen Betrachtung als Effekt eines „negativen Stimmgewichts“ beschrieben wird.
Dabei ist es möglich, dass eine Partei dadurch mehr Sitze erhält, dass sie Stimmen verliert, oder weniger Sitze erhält, weil sie Stimmen gewinnt.
Dieser Effekt bzw. ihn ermöglichende Gestaltungen des Wahlsystems sind 2008 vom Bundesverfassungsgericht wegen seiner absurden Konsequenzen für verfassungswidrig erklärt worden.
Die politischen Auswirkungen der verglichenen Verfahren
Bei der Anwendung von „Rock“…
- werden größeren Parteien mehr Mandate zugeteilt als kleineren Parteien, daraus folgt:
- Es kommt zu weniger Ausgleich- und Überhangmandaten
- Die Mehrheitsklausel wird weniger oft angewandt
- Es können weniger Fraktionen gebildet werden
(Ausnahme Bezirksvertretungen und Wahlkreise mit Überhang-/Ausgleichsmandaten) - Es kommt zu versteckten Sperrklauseln zwischen 1,1% und 4,3%
- Das Erfolgswert-Fehlermaß weicht stärker vom Idealwert 1 ab
- Die Erfolgswertgleichheit wird verschlechtert
Bei der Anwendung von Sainte-Laguë …
- kann die Berechnung der Mehrheitsklausel vom Wahl des Divisors abhängen
Zum Nachrechnen der amtlichen Wahlergebnisse, sollten …
- nicht nur die Stimmen und zugeteilten Mandate, sondern auch die Anzahl an Direktmandaten in maschinenlesbarer Form zum Download bereitgestellt sein.
- Informationen über nicht-zugelassene Reservelisten auffindbar sein.
Sollten die Richter am Verfassungsgerichtshof (VerfGH) NRW in Münster den Forderungen der „kleinen“ Parteien noch im Jahr 2025 entsprechen, hätte dies auch schon Auswirkungen auf die Sitzverteilung im Mönchengladbacher Rat am 14. September 2025.
Dies geht aus der Antwort des VerfGH auf eine BZMG-Anfrage hervor.
Dass es noch vor der Kommunalwahl 2025 zu einer Entscheidung kommen wird, sei „hochwahrscheinlich“.