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Kaum jemand aus den Mönchengladbacher Parteien, die am 13. September 2020 versuchen, „ihren“ Hauptverwaltungsbeamten durchzusetzen, hatte daran gezweifelt, dass die Wahlen der (neuen) Verwaltungslenker ohne Stichwahl ablaufen könnte.

Solche gab es 2004 und 2014 und wurden erforderlich, wenn ein Kandidat nicht sofort mehr als 50% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte.

In Mönchengladbach setze sich in der Stichwahl der CDU-Kandidat Hans Wilhelm Reiners nur mit einer Differenz von 543 Stimmen gegen den amtierenden SPD-Oberbürgermeister Norbert Bude durch.

Der „Erfolg“ von Hans Wilhelm Reiners und das knappe Ergebnis waren wohl überwiegend auf die geringe Wahlbeteiligung von nur 29,62% zurückzuführen, die wiederum darauf basierte, dass es Amtsinhaber Bude nicht gelungen war, genügend Unterstützer an die Wahlurnen zu bringen.

Die Gründe dafür wiederum lagen in seiner gegen Ende der Wahlperiode 2009 – 2014 unkalkulierbaren Amtsführung.

Was Wähleraktivierung anbelangt, war es 2004 Stefan Wimmers (damals CDU, heute FDP) ähnlich ergangen, der wegen seines großen Vorsprunges vor Bude im 1. Wahlgang den Fehler beging, die Wahlkampfaktivitäten zur Stichwahl quasi einzustellen.

Nachdem im Jahr 2007 die Regierungs- und Landtagsmehrheit aus CDU und FDP die Stichwahl abgeschafft hatte, siegte in Mönchengladbach Norbert Bude (SPD) mit 49,29% deutlich über Norbert Post (CDU) mit nur 31,95% der abgegebenen Stimmen, wobei ihm sicherlich der „Amtsbonus“ und seine bis dahin erkennbare „Berechenbarkeit“ geholfen hatte.

In allen 1. Wahlgängen lag die Wahlbeteiligung (fast traditionsgemäß) bei ca. 45%, bei nachfolgenden Stichwahlen weitaus geringer.

Die Legitimation der Hauptverwaltungsbeamten bewegte sich in Relation zu den Wahlberechtigten in Mönchengladbach immer nur bei (weit) unter 20%.

Ausgangslage nach der Kommunalwahl 2014

In der Hoffnung, dass die CDU bei der Kommunalwahl 2020 „ohne Stichwahl“ in NRW bei der Wahl der Hauptverwaltungsbeamten in den Städten und Kreisen besser abschneiden würden, hatten CDU und FDP im Landtag das Kommunalwahlgesetz geändert und die Stichwahl wieder abschaffen wollen.

In dem von 83 Abgeordneten des Landtags eingeleiteten Verfahren der Normenkontrolle hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster heute (20.12.2019) entschieden, dass die Abschaffung der Stichwahlen bei Bürgermeister- und Landratswahlen gegen Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats verstößt.

Mit der Landesverfassung vereinbar ist hingegen die Neuregelung zur Größe der Wahlbezirke für die Wahlen zu den Räten und Kreistagen.

Die Vorgaben zur Abweichungstoleranz bei der Wahlbezirksgröße müssen aber einschränkend ausgelegt werden.

Sachverhalt vor der Entscheidung des NRW-Verfassungsgerichtshofes

Im Jahr 2007 wurde die Stichwahl bei den Bürgermeister- und Landratswahlen erstmals abgeschafft.

Dies war nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2009 auf der Basis der vom Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt zugrunde gelegten Verhältnisse mit der Landesverfassung vereinbar.

Nach der Wiedereinführung der Stichwahl im Jahr 2011 wurde das Wahlverfahren durch Änderung des § 46c des Kommunalwahlgesetzes NRW erneut als einstufige Wahl mit relativer Mehrheit ausgestaltet.

Zur Einteilung der Wahlbezirke sah die bisherige Regelung in § 4 Abs. 2 Kommunalwahlgesetz NRW unter anderem vor, dass die Einwohnerzahl in einem Wahlbezirk nicht mehr als 25 vom Hundert von der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Wahlbezirke im Wahlgebiet nach oben oder unten abweichen darf.

Die Vorschrift wird nunmehr ergänzt durch die Vorgabe, dass bei der Ermittlung der Einwohnerzahl unberücksichtigt bleibt, wer nicht Deutscher im Sinne von Artikel 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist oder nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt.

Die Antragstellerinnen und Antragsteller machten im Wesentlichen geltend, die erneute Abschaffung der Stichwahl zugunsten einer einstufigen Wahl mit relativer Mehrheit sowie die Neuregelung zur Einteilung der Wahlbezirke verletzten das Demokratieprinzip und die Chancengleichheit der politischen Parteien.

Im Hinblick auf die Stichwahl liege insbesondere ein Verstoß gegen die dem Gesetzgeber aufgegebene Begründungs- und Beobachtungspflicht vor.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

In der mündlichen Urteilsbegründung führte die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Dr. Ricarda Brandts unter anderem aus:

„Die Abschaffung der Stichwahl sei nicht mit der Landesverfassung vereinbar. Für die Frage, ob die Bürgermeister- und Landratswahlen den Gewählten eine hinreichende demokratische Legitimation vermittelten, sei neben der Wahlbeteiligung der erreichte Zustimmungsgrad von Bedeutung.

Die verfassungsrechtliche Beurteilung hänge insoweit von den zugrunde liegenden normativen und tatsächlichen Verhältnissen ab.

Je höher der zu erwartende Anteil der obsiegenden Kandidatinnen und Kandidaten sei, die im einzigen Wahlgang lediglich eine weit von der absoluten Mehrheit entfernte relative Mehrheit erreichten, umso mehr sei das demokratische Prinzip der Mehrheitswahl tangiert.

Die diesbezügliche Beurteilung sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, vom Verfassungsgerichtshof aber daraufhin zu überprüfen, ob sie auf einer vollständigen tatsächlichen und rechtlichen Grundlage beruhe.

Gemessen daran verfehle die Prognose des Gesetzgebers, die einstufige Direktwahl der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten und -beamtinnen mit relativer Mehrheit führe zu einer Stärkung demokratischer Legitimation, die verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Es fehle an einer Einbeziehung relevanter Tatsachen.

Der Gesetzgeber habe sich darauf beschränkt, die vergangenen Kommunalwahlen im Hinblick auf die Wahlbeteiligung und die Bedeutung der Stichwahl statistisch auszuwerten, ohne die in diesem Zusammenhang bedeutsame zunehmende Zersplitterung der Parteienlandschaft zumindest in den Blick zu nehmen.

Dies falle umso mehr ins Gewicht, als diese Entwicklung des Parteienwesens den Gesetzgeber mit den Stimmen von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bereits im Jahr 2016 veranlasst hatte, eine Sperrklausel für Rats- und Kreistagswahlen in Höhe von 2,5% auf Verfassungsebene einführen zu wollen.

Die von den Antragstellerinnen und Antragstellern ebenfalls angegriffene Neuregelung, wonach nur Deutsche sowie EU-Ausländer und EU-Ausländerinnen bei der Berechnung der Einwohnerzahl der einzelnen Wahlbezirke berücksichtigt werden, sei mit der Landesverfassung vereinbar.

Sie führe zu einer verbesserten Realisierung der Wahlrechts- und Chancengleichheit, die grundsätzlich eine Einteilung des Wahlgebietes in gleich große Wahlkreise ausgehend von der Zahl der Wahlberechtigten gebiete.

Die mit dieser Neuregelung im Zusammenhang stehende Bestimmung zur zulässigen Abweichungstoleranz bei der Einteilung der Wahlbezirke von bis zu 25% bedürfe der einschränkenden, sogenannten verfassungskonformen Auslegung: Eine Abweichung von mehr als 15% erfordere eine besondere Rechtfertigung.

Eine Differenz von bis zu 15% sei vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt, weil gewisse Abweichungen aufgrund des stetigen Bevölkerungswandels unvermeidbar seien. Die (volle) Ausschöpfung der Abweichungstoleranz von 25% bringe aber einen nicht unerheblichen Eingriff in die Wahlrechts- und die Chancengleichheit mit sich und müsse deshalb im Einzelfall durch die jeweilige Kommune verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

Als legitimer Grund komme das gesetzlich verankerte Ziel der Wahrung räumlicher Zusammenhänge in Betracht.

Hinter diesem Aspekt müssten indes verfassungsrechtliche Ziele stehen, die ein der Wahlrechts- und Chancengleichheit vergleichbares Gewicht besäßen.

Eine pauschalierende Anwendung der 25%-Klausel zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung werde diesem Erfordernis nicht gerecht.

Die Verwaltungsvereinfachung sei – ebenso wie der Gesichtspunkt einer leichteren Zuordnung des jeweiligen Wahlbezirks zu einem Wohngebiet – kein durch die Verfassung legitimierter Grund, der sich mit der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten könne.

Sondervotum der Verfassungsrichterin Prof. Dr. Dauner-Lieb sowie der Verfassungsrichter Prof. Dr. Heusch und Dr. Röhl zur Abschaffung der Stichwahl

Nicht alle Gerichtsentscheidungen müssen einstimmig ausfallen. Wie auch die zur Rede stehende Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Abschaffung der „Stichwahl“ durch CDU und FDP in NRW.

Richter, die mit der Mehrheitsentscheidung z.B. des Senates nicht einverstanden sind, haben das Recht, ein so genanntes „Sondervotum/Minderheitenvotum“ abzgeben.

Davon haben drei Richter am NRW-Verfassungsgerichtshof Gebrauch gemacht:

Die Verfassungsrichterin Prof. Dr. Dauner-Lieb sowie die Verfassungsrichter Prof. Dr. Heusch und Dr. Röhl haben ein Sondervotum abgegeben, das sich lediglich auf die Entscheidung des Senats zur Abschaffung der Stichwahl bezieht.

Sie gehen davon aus, dass die Entscheidung des Landesgesetzgebers zur Abschaffung eines zweiten Wahlgangs bei der Wahl der Hauptverwaltungsbeamten und -beamtinnen der Gemeinden und Kreise mit der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vereinbar sei, insbesondere auch mit dem dort verankerten Demokratieprinzip und den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen.

Die Senatsmehrheit überhöhe den demokratischen Gehalt von Stichwahlen und verliere dabei die zumeist sinkende Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen aus dem Blick.

Das Gericht dürfte nicht die tatsächlichen und rechtlichen Wertungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch seine eigenen ersetzen.

 

Aktenzeichen: VerfGH 35/19