Seite auswählen

Unsere Eltern und Großeltern können erlittene, erlebte Geschichten erzählen.

In meinem Buch „Die Pendeluhr“, das Einblicke in mein Leben gewährt, habe ich folgende Begebenheiten geschildert:

1945

Ende des Zweiten Weltkriegs.

„Vergesst Gott nicht in eurer Not“, hatte der Pfarrer Gläubige und weniger Gläubige ermahnt.

Meine Mutter war gläubig, aber sie musste eher nach irdischen Dingen als nach Gott Ausschau halten.

Es ging ums Überleben.

Sie benötigte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mantel und Schuhe.

Verzichten mussten die Menschen.

Satt werden war wichtig.

An Überfluss litt niemand.

Die Zeitung kündigte eine Kürzung der Lebensmittelrationen an.

Eine Frau wurde beim Milchdiebstahl erwischt, als sie Milch von einer an der Straße abgestellten Kanne abzapfte.

Obwohl sie aus Not handelte, wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Jemand, den Mutter kannte, bot an, heimlich das gemästete Hausschwein zu schlachten, um die Fleisch-Rationen für die nächsten Monate zu sichern.

Viel falsch machen konnte Mutter ihrer Meinung nach nicht.

Wie viel Fleisch der Mann für sich reservierte und ob er noch sonstige Dienste meiner Mutter einforderte, kam nicht zur Sprache.

Mutter klagte nicht – nicht über ihr Leben, nicht über das Leben und Verhalten anderer.

Wer hätte ihr zugehört?

Am Wochenende saß sie auf der Küchenbank.

Vor ihr auf dem Tisch lag ein Stapel alter Zeitungen.

Mit dem Brotmesser zerteilte sie Seite für Seite in kleine handliche Stücke und legte sie zu einem Block aufeinander.

Mit der Schere bohrte sie ein Loch am oberen Ende durch den Stapel und zog eine Schnur hindurch. Mit dem Bündel in der Hand ging sie nach draußen zu jenem Ort, den wir „Örtchen“ nannten.

Die „Sitzungen“ dauerten mal kürzer, mal länger.

Das hing davon ab, welche Nachricht man vom Stapel holte.

Wenn ich Schiffchen aus Zeitungspapier bauen wollte, war es schwierig, eine Zeitung vor dem Stapel zu retten.

Für ein Bündel alter Zeitungen bot der Altpapierhändler ein paar Pfennige an.

Neue Schuhe, die ich zur Feier meiner Erstkommunion bekommen sollte, waren unerschwinglich.

Ein Schuster stellte sie in Heimarbeit her.

Den Kommunion-Anzug erbettelte Mutter.

Warum hat sie dieses Leben akzeptiert?

Weil es keine Alternativen gab.

An wortreiche Klagen kann ich mich nicht erinnern.

Ihren Schmerz über den frühen Tod meines Vaters, der in Russland den „Heldentod“ erlitt, hat sie nie gezeigt.

Für Trauer blieb weder Raum noch Zeit.

Psychotherapeuten wären voll beschäftigt gewesen.

Negative Erlebnisse wurden verdrängt. In fast allen Häusern gab es leidvolle Erfahrungen.

Es gab viele Gründe für viele Tränen.

Geflossen sind sie spärlich.

Oder sie blieben uns Kindern verborgen.

Kein Wunder, dass meine Mutter nicht alt geworden ist.

Mit gut sechzig Jahren waren ihre Kräfte aufgezehrt.

Ihr Lebensfaden war durch viele Zerreißproben brüchig geworden.

Die „gute, alte Zeit“.

Mutters Zeit, kann nicht besonders gut gewesen sein.

Hinweis der Redaktion

DIE  PENDELUHR – Stationen erinnerungswürdiger Jahre

Sie dürfen nicht – Ich will mitreden
Die Guten ins Töpfchen – Wohin die Anderen?
Das dürfen Sie nicht lesen – Aus Schaden wird man klug
Reglementiert und behütet – Ich denke selbst
In Züge stieg ich ein – Ich stieg wieder aus
Lebensentwürfe revidierte ich – Ich wollte anders leben

Die Pendeluhr fand ihren Rhythmus wieder
Die Pendeluhr – Wir verstehen uns
Die Pendeluhr – Eine ungewöhnliche Zeit-Geschichte

Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016, 8.90 Euro • ISBN 978-3-7412-4651-7