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Dr. Sabine Jentsch: Behinderung und politische Teilhabe

 

 

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven der Disability Studies“, Universität Hamburg, 10.12.2012

 

 

 

Einleitung

 

 

Vielen herzlichen Dank an alle Mitwirkenden des ZeDiS für Ihre freundliche Einladung! Ich freue mich sehr, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen!

 

Liebe Anwesende!

 

 

Die Überlegungen, die ich Ihnen nun vorstellen möchte, haben die Behinderung politischer Teilhabe zum Gegenstand, und genauer: die Behinderung politischer Selbstbestimmung durch bundesdeutsches Recht. So sieht das Bundeswahlgesetz immer noch vor, Bürgerinnen und Bürgern, die von Behinderung betroffen sind, unter bestimmten Bedingungen das Wahlrecht zu verweigern. In einem europäischen Rechtsvergleich zählt die Grundrechteagentur der Europäischen Union daher die Bundesrepublik Deutschland zu denjenigen Staaten, die durch ihre rechtlich gesetzten Ausschlussmerkmale tief in die politischen Mitwirkungsrechte von Menschen mit Behinderungen eingreifen. Dagegen lässt beispielsweise das Österreichische Wahlgesetz bereits seit 1987 keinen solchen Wahlrechtsausschluss mehr zu. Ebenso wie auch im niederländischen und im britischen Wahlrecht werden die von Behinderung betroffenen Bürgerinnen und Bürger hier mit anderen Wählerinnen und Wählern formal gleichgestellt. Welche Gründe führt die deutsche Bundesregierung gegen eine Gleichstellung und gegen eine ersatzlose Streichung des entsprechenden Paragraphen an? Können sie einer kritischen Überprüfung standhalten? Welche Strategien werden von ihr genutzt, um eine breite öffentliche Diskussion über den rechtlich wie politisch fragwürdigen Wahlrechtsausschluss zu unterbinden? Das sind die Fragen, denen ich mich in meinem Vortrag stellen möchte.

 

Die politische Forderung »Nichts über uns ohne uns!« ist aus der zivilgesellschaftlichen Be­ hindertenbewegung entstanden und wurde in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben. Auf treffende Weise formuliert diese Forderung einen grundlegenden demokratischen Anspruch. Denn die demokratische Idee setzt der Verfassung eines politischen Gemeinwesens folgende Bedingung: Alle, die seinen Normen und Regeln unterworfen sind, sollten ohne Ansehen der Person zugleich selbst als Trägerinnen und

Träger politischer Entscheidungsmacht anerkannt und behandelt werden. Den rechtlichen Rahmen für eine solche Anerkennung bilden unter anderem grundrechtlich gesicherte politische Teilhabegarantien. Nicht zuletzt in der unmittelbaren oder mittelbaren Legitimierung politischer Entscheidungen durch verfassungsrechtlich verankerte, allgemeine und freie Wahlen findet die Vorstellung des demokratisch verfassten Souveräns ihren Ausdruck. Dieses demokratische Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft steht jedoch auf dem Spiel, wenn ein Teil der Normunterworfenen vom Legitimationsprozess ausgenommen wird, indem ihnen ein Wahlrecht vorenthalten und so ihre politische Selbstbestimmung beschnitten ist. Daher mahnt die Venedig-Kommission, die den Europarat in verfassungsrechtlichen Fragen berät: »Menschen mit Behinderungen sollten […] ihr Recht, zu wählen und am politischen und öffentlichen Leben als gewählte Repräsentanten zu partizipieren, gleichberechtigt mit anderen ausüben können. Die Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger […] am demokratischen Prozess ist essentiell für die Entwicklung demokratischer Gesellschaften.«1

 

Bereits im Jahr 2003 hatte Anne Waldschmidt, Mitbegründerin des Arbeitskreises Disability Studies in Deutschland, auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der behindertenpolitischen Forderung nach Selbstbestimmung hingewiesen: »Behinderung in diesem Zusammenhang als ein erkenntnisleitendes Moment zu benutzen«, heißt nicht nur, »behinderten Menschen die allgemein übliche Selbstbestimmung zuzugestehen; vielmehr werden mit der behindertenpolitischen Autonomieforderung Fragen aufgeworfen, die auch die Selbstbestimmung Nichtbehinderter in einem neuen Licht erscheinen lassen.«2

 

Waldschmidt stellt jedoch klar, dass ein gesamtgesellschaftlicher Perspektivwechsel nicht zu haben ist, ohne den Januskopf der Autonomieforderung in den Blick zu nehmen. Die traditionelle Auffassung politischer Selbstbestimmung zeigt ihr unaufgeklärtes Gesicht, sobald das Konzept des rationalen, autonomen Subjekts in historisch und gesellschaftspolitisch unreflektierter Weise genutzt wird, um eine »neue Behindertenhierarchie«3 zu etablieren und auf ihrer Grundlage eine Ungleichverteilung politischer Mitwirkungs- bzw. Selbstbestimmungsrechte zu ›rechtfertigen‹. Die Vorstellung des rationalen, selbstbestimmten Subjekts »als quasi naturgegeben vorauszusetzen, und von diesem Ansatz aus zu untersuchen, wieviel Selbstbestimmung (vielleicht) denjenigen zugestanden werden kann, die von der Gesellschaft eigentlich gar nicht als autonomiefähig angesehen werden«,4 bedeutet vor allem eines: nämlich bestehende Deutungsmonopole nicht grundsätzlich anzutasten, sondern tradierte Differenzierungsmaßstäbe und Vorurteile zu bestätigen. Ein solches methodisches Vorgehen, so Waldschmidt, kritisch zu reflektieren und konstruktive Alternativen zu entwickeln, ist Aufgabe der Disability Studies.

Diesem Auftrag sind auch die folgenden Überlegungen verpflichtet. In einem ersten Schritt werde ich die aktuelle Rechtslage darstellen und prüfen, welche Annahmen dem Rechtmäßigkeitsanspruch zugrunde liegen, den die Bundesregierung für den Wahlrechtsausschluss erhebt. Anschließend werde ich zeigen, welche Mittel eingesetzt werden, um den Eindruck eines gerechtfertigten Deutungsprivilegs der nicht-inklusiven gegenüber einer inklusiven Auffassung zu erwecken. Den Abschluss bildet ein Plädoyer für eine inklusive Auffassung politischer Selbst- und Mitbestimmung, das die wechselseitige Verschränkung von Menschen- und Bürgerrechten Ernst nimmt.

 

 

 

Die aktuelle Rechtslage

 

 

Die Bedingungen, unter denen behinderten Menschen automatisch das Wahlrecht entzogen ist, sind in § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG niedergelegt. Dort heißt es: »Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist […] derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist.«5 Das bedeutet, eine gerichtliche Betreuerbestellung für alle Angelegenheiten bildet die formale Grundlage des Wahlrechtsentzugs. Trotz seines scheinbar unparteilichen Wortlauts ist der Gesetzestext jedoch keineswegs neutral gegenüber ›gruppenspezifischen‹ Kriterien. Denn in Kombination mit § 1896 Abs. 1 BGB, der die rechtliche Betreuung regelt, können nur Menschen mit einer »psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung« vom Wahlrechtsausschluss betroffen werden. Für sie allein kann »auf […] Antrag oder von Amts wegen« überhaupt eine Betreuung angeordnet werden.6 Aufgrund gleichlautender Vorschriften umfasst der Wahlrechtsausschluss behinderter Menschen auch die Teilnahme an Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen.

Die Rechtsfolgen dieser Vorschriften bedrohen ausschließlich und systematisch Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen und sind zudem kaum bekannt. Insgesamt ist in der Bundesrepublik Deutschland nach Schätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte einer fünfstelligen Zahl behinderter Menschen das Wahlrecht von Rechts wegen verwehrt. Eine offizielle Datenerhebung wurde trotz mehrerer parlamentarischer Anfragen bislang von der Bundesregierung nicht vorgelegt.

Der Bruch sowohl verfassungsrechtlicher als auch völkerrechtlicher Normen durch das deutsche Bundeswahlgesetz wurde vielfach aufgezeigt und kritisiert. So stellt die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention fest: »Dieser pauschale Ausschluss einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ist nicht zu rechtfertigen und stellt sowohl nach menschenrechtlichen als auch nach verfassungsrechtlichen Maßstäben eine unzulässige Ungleichbehandlung dar.«7 Die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts legitimen Grenzen der Wahlrechtseinschränkung »werden hier wegen der Verletzung des menschenrechtlichen Diskriminierungsverbotes überschritten, insbesondere in Verbindung mit Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und Artikel 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt), die beide die gleichberechtigte politische Teilhabe aller Menschen verbriefen. Beide Verträge gelten in Deutschland unmittelbar und sind auch bei der Auslegung […] des Grundgesetzes zu beachten.«8

 

Ebenso wie die Monitoringstelle fordert auch die BRK-Allianz eine ersatzlose Streichung der entsprechenden Wahlrechtsparagraphen. Diese noch junge Allianz, in der 78 nationale Nichtregierungsorganisationen aus Behinderten- und Sozialverbänden sowie Gewerkschaften zusammenarbeiten, hat im September 2012 einen Kurzbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Er soll im Mai des nächsten Jahres in das turnusmäßige Prüfverfahren (Universal Periodic Review) des UN-Menschenrechtsrats eingebracht werden. In dem Report heißt es: Der »generalisierte Wahl­ rechtsausschluss ist willkürlich, weil inhaltlich kein Zusammenhang zwischen der Anordnung einer rechtlichen Betreuung und dem Wahlrecht besteht. Im Betreuungsverfahren wird die Fähigkeit zur Beteiligung an einer Wahl nicht geprüft. […] Das generalisierende Anknüpfungsmerkmal der ›Totalbetreuung‹ für den automatischen Wahlrechtsausschluss ist entgegen der Auffassung der Bundesregierung (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 19.10.2011, S. 15637) nicht angemessen«9. Unter anderem stützt sich der Bericht ausdrücklich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2010. Der Gerichtshof wertet dort »die unterschiedslose Aberkennung des Wahlrechts […], ohne dass eine rechtsförmliche und individualisierte Beurteilung stattfindet, als Verstoß gegen Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention.«10

 

Das Urteil folgt einem formalen Gerechtigkeitsgrundsatz, der für die Rechtswissenschaften von zentraler Bedeutung ist: Gleiches ist durch das Recht gleich zu behandeln. Eine unterschiedliche Rechtsbehandlung ist nach dem Grundsatz jedoch dann erlaubt, wenn die Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung nahelegen, nicht willkürlich, sondern ›maßgeblich‹ sind. Ihre Relevanz und Sachangemessenheit muss im jeweils konkreten Einzelfall geprüft und begründet werden. Für sich genommen verhindert der Grundsatz nicht, dass sich sowohl die Befürworterinnen und Befürworter eines Wahlrechtsauschlusses als auch seine Gegnerinnen und Gegner auf ihn berufen können. Denn je nach gesellschaftspolitischem Hintergrundmodell, das inhaltlich festlegt, welche Hinsicht maßgebend ist, erscheint der Ausschluss entweder als willkürlich oder als nicht-willkürlich. Ich möchte daher Ihren Blick auf die beiden inhaltsstiftenden Konzepte lenken, die für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang von Bedeutung sind: nämlich das integrative und das inklusive Modell.

 

Die Unterscheidung beider Modelle ist aus der bildungspolitischen Kontroverse um eine an­ gemessene Teilhabe behinderter Schülerinnen und Schüler am allgemeinen Bildungssystem hervorgegangen. Gemäß dem inklusiven Partizipationsmodell ist ein gerichtlicher Prüfvorbehalt, der über eine Teilhabe oder einen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen entscheidet, unrechtmäßig und eine bedingungslose Beteiligung nicht verhandelbar. Das gilt für ihre schulische, aber auch für ihre demokratische Partizipation. Sowohl eine Feststellung der Integrationsfähigkeit einer behinderten Schülerin als Voraussetzung für ihre Teilnahme am Regelschulunterricht als auch eine Überprüfung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit einer behinderten Bürgerin als Bedingung für ihre Teilhabe an demokratischen Wahlen ist nach dieser Auffassung abzulehnen. Gemäß dem integrativen Teilhabemodell hingegen ist ein solcher Prüfvorbehalt nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Seine Verfechterinnen und Verfechter schließen zwar einen pauschalen Wahlrechtsausschluss aus, behalten sich jedoch eine Einzelfallprüfung behinderter Menschen vor. Wird eine gegenüber nicht behinderten Menschen unterschiedliche Behandlung als ›sachangemessen‹ bewertet, dann ist sie nach dieser Auffassung auch rechtmäßig.

 

Einen Kompromiss kann es zwischen dem integrativen und dem inklusiven Partizipationsmodell nicht geben. Denn beide Konzepte konkurrieren in ihren deskriptiven und normativen Prämissen sowie in ihrem methodischen Umgang mit Vielfalt.11 Auch ist der integrative Ansatz nicht als Ausgleich zwischen einer exklusiven und einer inklusiven Position zu verstehen. Vielmehr bleibt er – so meine in diesem Vortrag zu verteidigende These – in grundlegender Weise einem ausgrenzenden Denken verpflichtet, das sich ausschließlich an den Wertungen der Mehrheitsgesellschaft orientiert und rechtliche Maßnahmen nur vor ihr und für sie rechtfertigt.

 

Das inklusive von einem integrativen Partizipationskonzept strikt zu unterscheiden, dient einem dreifachen Zweck: Erstens hilft die Unterscheidung, die in der Vergangenheit vorgebrachten Argumente für und gegen den Wahlrechtsausschluss zu klären. Zweitens sensibilisiert die Unterscheidung für künftige ›faule Kompromisse‹, wie sie sich möglicherweise in der Begründung der Bundesregierung, aber auch in dem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ankündigen. Dass sich die BRK-Allianz auf diesen Gerichtshofentscheid stützt, muss aus der Perspektive der Disability Studies unverständlich bleiben. Denn das integrative Teilhabeverständnis mit seinem Prüfvorbehalt gegen behinderte Menschen, das dem Gerichtshofurteil zugrunde liegt, leistet dem tradierten Differenzdenken und einer »neuen Behindertenhierarchie« Vorschub, vor der bereits Waldschmidt gewarnt hatte.12 Drittens wird erkennbar werden, wie die Nichtbeachtung der Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion als Mittel dient, um eine Verträglichkeit des deutschen Bundeswahlgesetzes mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zu suggerieren.

 

 

 

Die Argumente der Bundesregierung für einen pauschalen Wahlrechtsausschluss

 

 

Auch die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Vertragsstaaten des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), das 2006 bei der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedet worden war. Dieses Übereinkommen verlangt in seinem Artikel 29 von den Unterzeichner- und Vertragsstaaten unter anderem, »sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden«.13 Trotz der damit eingegangenen Gewährleistungsverpflichtung hält die Bundesregierung jedoch weiterhin an ihrer ablehnenden Haltung fest, das Wahlgesetz entsprechend zu ändern. Sie hat ihren Standpunkt in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN­ Behindertenrechtskonvention noch einmal bekräftigt.14 Warum? Immerhin geht es nicht um den Entzug eines beliebigen Rechts, sondern um eine Aberkennung des politischen Grundrechts par excellence: des passiven und aktiven Wahlrechts.

 

Die Antwort hat sie in ihrer Denkschrift zur UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 gegeben.15 In ihren kurzen Ausführungen verbindet die Bundesregierung die Gründe für einen Wahlrechtsausschluss mit dem Anspruch objektiver Angemessenheit. Es sei »allgemein anerkannt,« so heißt es dort, »dass ein Ausschluss vom Wahlrecht auf gesetzlich niedergelegten Gründen beruhen darf, die objektiv und angemessen sind. Das wird […] im Fall der Unzurechnungsfähigkeit […] angenommen.« An dem Wahlrechtsausschluss sei festzuhalten, »weil das Wahlrecht als höchstpersönliches Recht nur Personen zustehen soll, die rechtlich in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sind.«

16 Diese Argumentation wirft kritische Fragen auf:

  • Die Bundesregierung hat in ihrem Aktionsplan ausdrücklich und geltendem Recht entsprechend anerkannt, dass eine gerichtliche Betreuerbestellung in allen Angelegenheiten die Rechts- und Geschäftsfähigkeit einer Person im juristischen Sinne nicht berührt.17 Nur in wenigen Ausnahmefällen und für konkret bezeichnete Bereiche können die Gerichte zusätzlich einen sogenannten Einwilligungsvorbehalt verfügen, der die Geschäftsfähigkeit einer betreuten Person einschränkt. Die Annahme der Regierung, dass sich jede Person, die von Behinderung betroffen ist und für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet wurde, faktisch und rechtlich im Zustand der »Unzurechnungsfähigkeit« befindet, entbehrt nicht nur einer objektiven Grundlage. Sie ist auch 18 Denn sie setzt eine beliebige konstitutionelle Gegebenheit wie etwa eine mehrfache Körper- und Sinnesbehinderung willkürlich mit der allgemeinen Unfähigkeit gleich, selbstständig zu entscheiden und zu handeln. Die von ihr unterstellte Bedingung dient ihr dann als Grundlage dafür, das politische Grundrecht zu verweigern.
  • Die Begründung stellt einen beliebigen Zusammenhang zwischen der normativen Fähigkeit, ein bestimmtes Recht zu besitzen, und der faktischen Fähigkeit, es auch auszuüben, her.19 Eine Komapatientin kann zwar das Recht zu wählen nicht ausüben. Aber ist dies ein hinreichender Grund, ihr das Wahlrecht abzuerkennen?20 In der Bundesrepublik Deutschland besteht nach dem Gesetz für niemanden eine Wahlpflicht.
  • Das Argument rechtfertigt keine Ungleichbehandlung behinderter und nicht behinderter Menschen. Letzteren wird das Wahlrecht bedingungslos garantiert. Keinem Wähler und keiner Wählerin, die nicht von Behinderung betroffen ist, wird abverlangt, sich zuvor einem Eignungstest zu unterziehen. Ohne jeden staatlichen Prüfvorbehalt der »selbstständigen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit« oder der Einsichtsfähigkeit in den Sinn und Zweck demokratischer Selbstbestimmung schließt das allgemeine Wahlrecht die Erlaubnis ein, es aus beliebigem Grund nicht wahrzunehmen und überhaupt nicht zu wählen, aus spontanem Impuls zu wählen, ohne Sachkenntnis und irrational zu wählen.21 Keine dieser Möglichkeiten wird als »objektiv angemessener«, rechtmäßiger Anlass gewertet, um einem Bürger oder
  • Dagegen wird etwa für das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden, oder für das Recht der freien Meinungsäußerung kein solcher Zusammenhang angenommen. Diese Rechte können nach Auffassung der Bundesregierung nicht dadurch verwirkt werden, dass sie von der Person, die sie besitzt, nicht aktiv ausgeübt werden oder nicht ausgeübt werden können. Vielmehr umfasst beispielsweise das Vereinsrecht sowohl die »positive Vereinsfreiheit […] als persönliches Recht des einzelnen behinderten Menschen […], Vereine zu gründen«, als auch die »negative Vereinsfreiheit […], keine Vereinigung zu gründen, bestehenden Vereinigungen fernzubleiben und aus ihnen auszutreten« (Bundestag, Drucksache 16/10808, S. 64). Die Disanalogie zwischen dem Vereins- und dem Wahlrecht wird an keiner Stelle erläutert und begründet.
  • Die »Willenstheorie« des Rechts bindet die allgemeine Zuschreibung von Rechten im Gegensatz zur »Interessetheorie« des Rechts an eine ›aktive‹ Kompetenz des Rechtsträgers. Markus Stepanians hat die Debatte zusammengefasst und charakterisiert die willenstheoretische Bedingung der Rechtsträgerschaft so: A besitzt genau dann ein Recht, wenn A die »normative (aber nicht unbedingt die faktische) Fähigkeit besitzt, B’s Pflichterfüllung zu kontrollieren. Rechtsträger sei derjenige, der in normativer Hinsicht gleichsam die Zügel in der Hand hält […]: A darf die Erfüllung der Pflicht von B einfordern oder B von ihr entbinden. In der Ausübung dieser normativen Kontrollkompetenz besteht aus Sicht des Willenstheoretikers die Ausübung des Rechts« (Stepanians 2007, S. 6 f. Hervorhebungen von S. J.). Die Definition für sich genommen lässt jedoch folgende Fragen offen: Erstens die Frage, ob die als Bedingung gesetzte normative Kontrollkompetenz wiederum faktische Fähigkeiten der Rechtsträgerinnen und Rechtsträger zur Bedingung hat; oder ob sie vielmehr mit der Vorstellung verträglich ist, dass diese normative Kontrollkompetenz, nämlich die höherstufige Erlaubnis, Rechte einzuklagen und so ihre Einhaltung zu erzwingen, auch durch eine dritte Partei ausgeübt werden darf. Während die erste Auffassung nur schwerlich mit einem menschenrechtlichen Verständnis in Einklang zu bringen ist, ist es die zweite Auffassung schon. Um die erste Position zu vertreten, müsste eigens dafür argumentiert werden, dass das Konzept der Rechtsträgerschaft nicht nur mit der Erlaubnis, sondern notwendig auch mit der Pflicht verbunden ist, die mit dem betreffenden Recht korrespondierenden Pflichten anderer entweder zu erwirken oder von ihnen zu entbinden. Das heißt, es wäre ein zwingendes Argument erforderlich, das zeigt, warum eine Person als Rechtsträgerin und sie allein die Pflichterfüllung anderer nicht nur kontrollieren darf, sondern auch kontrollieren muss. Neben diesem allgemeinen rechtstheoretischen Problem stellt sich die spezifischere Frage, ob das Wahlrecht mit einer allgemeinen Wahlpflicht verbunden sein sollte oder nicht. Dies sieht die deutsche Gesetzgebung mit guten Gründen nicht vor.

 einer Bürgerin, die nicht von Behinderung betroffen ist, das Wahlrecht vorzuenthalten. Warum sollte nicht Gleiches für alle anderen Bürgerinnen und Bürger gelten?

 

Eine Überprüfung des Arguments kann den Anspruch der Bundesregierung, dass das Kriterium für einen Wahlrechtsausschluss auf objektiven und angemessenen Gründen beruht, nicht bestätigen. Vielmehr sind ihre Ausführungen willkürlich und ableistisch. Sie sind unter anderem deswegen ableistisch, weil sie die biologistische Annahme beinhalten,22 dass die zufällige Konstitution eines Menschen über seine Qualifikation zur Rechtsperson entscheidet. Die Bürgerinnen und Bürger werden klassifiziert nach ihrer jeweils gegebenen körperlichen und kognitiven Verfassung, die zugleich über die Qualität ihrer Rechtswürdigkeit aussagen soll. In welchem Maß dieser Ableismus »eine Ideologie«23 ist, und das heißt mit den Worten von Christiane Hutson: »ein in sich geschlossenes Gedankensystem […], welches gesellschaftliche Realitäten mit Gewalt hervorbringt«24, soll später deutlich werden.

 

 

 

Zur Unvereinbarkeit von Bundeswahlgesetz und UN-Behindertenrechtskonvention

 

 

Die Bundesregierung betont stets aufs Neue, der Wahlrechtsentzug stehe mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention in Einklang. Sie beruft sich in ihrer Denkschrift auf Artikel 25 des UN-Zivilpaktes von 1966, aus dem die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention hervorgegangen seien.25 In seinem Artikel 25 heißt es: »Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied […] und ohne unangemessene Einschränkungen […] zu wählen und gewählt zu werden«26. Der Rechtstext selbst lässt offen, ob es überhaupt angemessene Ausnahmen von der Allgemeinheit der Wahl gibt. Dreißig Jahre später hat der UN-Menschenrechtsausschuss den Artikel in seiner Allgemeinen Bemerkung Nummer 25 wie folgt interpretiert.27 Der Ausschuss stellt dort zunächst allgemein fest, dass das Wahlrecht »nur aus gesetzlich vorgesehenen sowie objektiven und sachgerechten Gründen ausgesetzt oder ausgeschlossen werden« darf.28 Schließlich äußert er jedoch die Vermutung, dass es unter bestimmten Bedingungen begründet sein könne, »einer Person [das Wahlrecht] zu verweigern, deren geistige Unzurechnungsfähigkeit feststeht.«29 Diese Auffassung hat das Deutsche Institut für Menschenrechte, das die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention überwacht, in einem Policy Paper von 2011 als überarbeitungsbedürftig kritisiert.30 Die Regierung dagegen erweckt in ihrer Denkschrift den Eindruck, die strittige Rechtsauslegung des UN-Menschenrechtsausschusses sei »allgemein anerkannt«.31

 

Die These der Vereinbarkeit des Wahlrechtsausschlusses mit der UN-Behindertenrechtskonvention stützt sich also genau genommen nicht auf den Rechtstext des UN-Zivilpaktes, sondern auf seine umstrittene Interpretation durch den UN-Menschenrechtsausschuss. Indem sich die Bundesregierung auf diese Interpretation des UN-Menschenrechtsausschusses einlässt, hält sie sich die Möglichkeit für eine scheinbare Kompromisslösung offen: nämlich den pauschalen Wahlrechtsausschluss, der bei einer gerichtlich bestellten Betreuung in allen Angelegenheiten automatisch wirksam wird, durch Gesetzesänderung in einen bedingten ›individualisierten‹ Wahlrechtsausschluss zu verwandeln. Die Möglichkeit des Wahlrechtsausschlusses wäre damit weiterhin gegeben, allerdings müsste die ›Zurechnungsfähigkeit‹ oder die ›Wahlfähigkeit‹ der Betroffenen in jedem konkreten Einzelfall gerichtlich festgestellt werden.

Eine solche individualisierte ›Lösung‹ entspricht durchaus der aktuellen Integrationspraxis im Bildungsbereich. Dort müssen die Betroffenen ihre Teilnahme am Regelschulunterricht oft mühsam einklagen. In den Gerichtsverfahren wird ihre Integrationsfähigkeit im Rahmen der Einzelfallprüfung eingestuft und ihr Anspruch gegen die verfügbaren öffentlichen Mittel und Bildungsressourcen abgewogen. Fast alle Bundesländer haben einen solchen Gesetzesvorbehalt. Auf diese Weise wird die Entscheidung über Ausschluss oder Teilhabe individualisiert und ihre Folgen als wohlbegründeter, nämlich sachgerechter rechtlicher Umgang mit Einzelschicksalen ausgegeben. Ihre Strukturbedingtheit und Abhängigkeit von menschengemachten rechtlichen Vorgaben, die auch anders sein könnten, tritt in den Hintergrund.

 

Ein analoges Vorgehen im Bereich demokratischer Teilhabe hat sich schon in dem oben erwähnten Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2010 angekündigt. Auch der Gerichtshof moniert nicht den Wahlrechtsausschluss selbst, sondern lediglich »die unterschiedslose Aberkennung des Wahlrechts […], ohne dass eine rechtsförmliche und individualisierte Beurteilung stattfindet«.32 Würden sich die Bundesregierung und der Bundestag auf eine entsprechende Gesetzesänderung einlassen, könnten sie ohne Zweifel das Etikett »integrativ« an die von ihnen beschlossene Maßnahme heften. Aber wäre sie auch mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention verträg­ lich?

Nein. Denn die UN-Behindertenrechtskonvention betrachtet demokratische Teilhabe aus einer inklusiven Perspektive. Im Gegensatz zu einem integrativen Vorhaben geht es ihr nicht darum, unangemessene von angemessenen Gründen für einen Ausschluss durch das Recht zu scheiden. Nach ihr kann und darf es überhaupt keinen Gesetzesvorbehalt geben. Denn sie folgt dem demokratischen Prinzip, dass keine Bürgerin und kein Bürger, aus welchen Gründen auch immer, vom Prozess politischer Selbstbestimmung ausgenommen werden darf. Die beiden Vorstellungen von Demokratie, die dem integrativen und dem inklusiven Modell politischer Partizipation jeweils zugrunde liegen, sind so radikal verschieden, dass es keinen Ausgleich zwischen ihnen geben kann.

Anders als die zivilgesellschaftliche Behindertenbewegung hat die staatliche Politik den Unterschied zwischen beiden Konzepten bislang schlichtweg ignoriert. Die mangelnde Bereitschaft, die Unterschiede anzuerkennen, wird etwa darin deutlich, dass vom Deutschen Bundestag unter Zustimmung des Bundesrates eine deutschsprachige Fassung der UN-Behindertenrechtskonvention herausgegeben wurde, die den Begriff »inclusion« durchgängig mit »Integration« übersetzt.33 Ebenso gebraucht die Bundesregierung beide Begriffe trotz ihrer Bedeutungsverschiedenheit synonym. Selbst die bildungspolitische Debatte im akademischen Bereich hat nicht wesentlich dazu beitragen, den un­ überbrückbaren Unterschied zwischen beiden Partizipationsmodellen aufzuhellen. Im Gegenteil: Noch immer wird dort, bis auf wenige Ausnahmen wie etwa die Streitschrift von Lars Bruhn und Jürgen Homann,34 mehrheitlich die Auffassung vertreten, Inklusion sei »die ultimative Integration«35 – eine erweiterte Form und Realisierung des Integrationsgedankens. Wie verfehlt diese Einschätzung ist, soll der folgende Vergleich des integrativen Ansatzes mit dem inklusiven Partizipationsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention verdeutlichen. Zunächst zu den Prämissen des Integrationsmodells demokratischer Partizipation.

 

 

 

Die Aufklärungsphilosophie verbindet zwei Aspekte, die das Integrationsmodell dagegen trennt: nämlich die Vorstellung des Menschen als eines vernunftfähigen, autonomen Wesens und die Vorstellung des Menschen als eines perfektiblen, das heißt ebenso entwicklungsbedürftigen wie entwicklungswürdigen Wesens. Das Integrationsmodell stützt seine Begründung demokratischer Teilhabe allein auf den ersten Aspekt, allerdings in einschränkender Weise. Sein Maßstab ist nicht der vernunftfähige, sondern der vernünftige Bürger bzw. die vernünftige Bürgerin. Der Begriff der Vernünftigkeit bezeichnet hier nicht mehr und nicht weniger als die individuelle Autonomie. Gemeint ist die aktuelle Kompetenz eines Menschen, natürliche Handlungsimpulse zu unterdrücken und sich im Entscheiden und Handeln von Gründen leiten zu lassen.

Mit ihrem Vernunftbegriff verknüpft die Integrationstheorie zwei empirische Annahmen, die die Inklusionstheorie bestreitet: Erstens die Annahme, dass die Menschen im ›Normalfall‹ einander in ihrer Vernunftkompetenz und in ihrem Vernunftgebrauch gleichen. Und zweitens die Annahme, dass die Ausbildung und Anwendung dieser Fähigkeit nicht auf äußere Bedingungen angewiesen ist, sondern gegeben ist oder nicht. Die Integrationstheorie lässt kein Mehr oder Weniger und kein Noch Nicht oder Nicht Mehr zu. Vielmehr nimmt sie an, dass Menschen, die in ihrem Lernen behindert wurden oder sind, das Vermögen zu selbstbestimmtem Entscheiden und Handeln gänzlich fehle. Sie unterstellt, dass die Betroffenen grundsätzlich nicht in der Lage seien, spontane bzw. natürliche Handlungsimpulse zu suspendieren und einer Einsicht in Gründe zu folgen.

Von diesem Verständnis individueller Autonomie aus rechtfertigt sich nach dem Integrationsmodell auch die Zuschreibung politischer Rechte. Ein vermeintlich exemplarischer Vernunftgebrauch wird willkürlich zur Norm erhoben und zugleich zur Bedingung für eine politische Teilhabe gemacht: Alle und nur diejenigen, die diese Norm erfüllen, haben auch einen rechtlichen Anspruch darauf, am demokratischen Verfahren teilzunehmen. Die integrative Politik bestreitet zwar nicht, dass Menschen, die der Norm nicht entsprechen, dennoch Träger von Rechten sein können – etwa von Sozial- oder Schutzrechten. Sie leugnet allerdings die Möglichkeit, dass sie sinnvollerweise Trägerinnen und Träger von politischen Grundrechten sein können, weil sie sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befänden, der nur natürliche Handlungsimpulse zulässt.

 

Wie willkürlich und widersprüchlich diese Auffassung ist, zeigt ein Blick auf die politische Praxis. Politische Entscheidungen sind häufig weniger durch Gründe als unmittelbar durch Interessen motiviert, die natürliche Bedürfnisse oder spontane Neigungen wie Machtstreben, Neid, Sympathie oder Hilfsimpulse zum Ausdruck bringen. Welche Interessen sich durchsetzen, ist meist eine Frage der realen Machtverteilung und nur selten das Produkt eines offenen Austauschs und der freien, vernunftgeleiteten Anerkennung von Argumenten. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass gute Gründe und nicht zufällige Interessen politisches Handeln anleiten sollten, kann nicht vorab als ausgemacht gelten, worin ein politischer Grund besteht, der allgemeine Anerkennung verdient. Sein Maßstab sollte aus inklusiver Sicht das Ergebnis, nicht die Voraussetzung gemeinsamen politischen Verhandelns sein. Um diesem Maßstab größtmögliche Unparteilichkeit zu garantieren, darf niemandem der Zugang zum demokratischen Prozess verwehrt sein. Das ist das Ziel des inklusiven Ansatzes.

 

Die inklusive Ausrichtung der UN-Behindertenrechtskonvention zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein unbedingtes Wahlrecht aller Menschen fordert und die drei Grundannahmen der Integrationstheorie verwirft: Erstens die Annahme, dass Menschen einander normalerweise in ihrem Vernunftgebrauch gleichen. Vielmehr geht sie von seiner Vielfalt aus. Zweitens weist sie die These zurück, dass Menschen in der Ausbildung und Anwendung ihrer Vernunftkompetenz von äußeren Umständen unabhängig sind. Sie setzt dagegen auf befördernde Bedingungen. Und schließlich kritisiert sie die Auffassung, dass sich aus den verschiedenen Weisen, Vernunft zu gebrauchen, unterschiedlich starke Ansprüche auf politische Partizipation bzw. Ausnahmen von der Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen lassen. Sie folgt demgegenüber dem moralischen Prinzip der Gleichheit der Würde in der Vielfalt.

 

Zu ihrer Verteidigung kann sich die Inklusionstheorie auf die Philosophie der Aufklärung stützen. Denn sie trägt auch der zweiten zentralen Idee der Aufklärungsphilosophie Rechnung: nämlich der der Perfektibilität des Menschen. Nach dieser Idee sind alle Menschen gleichermaßen entwicklungsbedürftig wie entwicklungswürdig mit Blick auf die Ausbildung ihrer Vernunftanlage. Die Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen beschreibt Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Diejenigen Naturanlagen des Menschen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielen, so heißt es dort, entwickeln sich vollständig nur in der Gattung, nicht aber im Individuum.36 Denn die »Vernunft in einem Geschöpfe […] bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten. Daher würde ein jeder Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen«.37

 

Danach können kein Mensch und keine soziale Gruppe für sich beanspruchen, die Vernunftanlage vollständig entfaltet zu haben. Ebenso wenig kann eine einzelne Person oder Gruppe für sich reklamieren, dass nur die eigene Anlage entwicklungswürdig ist. Vielmehr verdient jede Person dank ihrer Teilhabe an der menschlichen Gattung gleiche Achtung unabhängig davon, ob empirische Umstände und Bedingungen ihren Vernunftgebrauch einschränken. Denn es ist allein die Bestimmung der Gattung, das menschliche Vernunftvermögen vollständig zu entfalten.

 

Allerdings sind wir nach Kant im Namen des Respekts vor der Vernunft als Selbstzweck auf­ gefordert, alle hindernden Umstände, sofern sie menschengemacht sind, zu beseitigen und die institutionellen Bedingungen so einzurichten, dass niemandem die Entfaltung und der Gebrauch seiner Vernunftfähigkeit verwehrt ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention nimmt mit ihrer inklusiven Ausrichtung auch und gerade diesen Aspekt der Aufklärungstradition Ernst. Nur wenn wirklich allen Bürgerinnen und Bürgern die gesetzlich verbriefte Möglichkeit und die nötige Assistenz gewährt wird, am demokratischen Prozess teilzuhaben, können sie auch ihrem Anspruch Ausdruck verleihen, als Zweck an sich selbst behandelt und nicht durch gesellschaftliche Institutionen in ihrer Vernunftentfaltung behindert zu werden. Anne Waldschmidt hatte auf die Gefahr hingewiesen, dass im Namen der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung eine neue Behindertenhierarchie etabliert werden könnte. Umso wichtiger ist es heute und in Zukunft, an beiden Ideen der Aufklärungstradition gleicher­ maßen festzuhalten.

 

Ich komme nun zum Schluss.

 

 

 

 

Ausblick: Politische Selbstbestimmung als Menschenrecht

 

 

Seyla Benhabib hat eindrucksvoll gezeigt, dass die spannungsreiche Geschichte moderner Demokratien, aber auch ihr Selbstverständnis auf einer doppelten Ausrichtung beruhen: nämlich ihrer menschenrechtlichen Orientierung und ihrer Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität bzw. der politischen Selbstbestimmung. Das Prinzip politischer Selbstbestimmung beschreibt Benhabib so: »Idealerweise bedeutet demokratische Herrschaft, dass alle Glieder eines souveränen Körpers als Träger von Menschenrechten anerkannt werden« und dass »die Gesellschaftsglieder dieser Souveränität […] eine Ordnung der Selbstführung gründen, in der jede und jeder gleichermaßen Gesetzgeber und den Gesetzen unterworfen ist […]. Moderne Demokratien begreifen […] ihre Bürger als mit Rechten ausgestattete Gesellschaftsglieder. Die Bürgerrechte beruhen auf den Menschenrechten. Les droits de l’homme et du citoyen widersprechen einander nicht; im Gegenteil, sie implizieren einander wechselseitig.«38

Die demokratische Idee politischer Selbstbestimmung verlangt demnach, dass ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger, die den Normen und Regeln eines Gemeinwesens unterworfen sind, zugleich selbst als Trägerinnen und Träger politischer Entscheidungsmacht behandelt werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Gemeinwesen als Ort politischer Willensbildung und politischen Handelns den Anspruch der Rechtmäßigkeit erheben will. Dieses Selbstverständnis gerät jedoch in Gefahr, wenn ein Teil der Normunterworfenen von der demokratischen Selbstbestimmung ausgeschlossen ist, indem ihnen das Wahlrecht vorenthalten ist. Es wird problematisch unter anderem deshalb, weil sich die Entscheidung für einen solchen Ausschluss nicht wieder auf demokratischem Weg legitimieren lässt, wenn die Entscheidungsbetroffenen vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen sind. Dieses Legitimitätsdefizit schließt die UN-Behindertenrechtskonvention, indem sie ein unbedingtes Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger als Menschenrecht fordert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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© Sabine Jentsch

 

 

Literaturverzeichnis

 

 

Benhabib, Seyla (2008): Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frankfurt/M.:

 

Campus.

 

 

Bruhn,    Lars    –     Homann,    Jürgen     (2009):     »Ein     Dutzend     Gründe,     warum     die

 

Integrationspädagogik gescheitert ist. Eine Streitschrift«. In: Das Zeichen: Zeitschrift für

 

Sprache und Kultur Gehörloser 82, S. 250-261.

 

 

Campbell, Fiona Kumari (2008): »Exploring internalized ableism using critical race theory«.

 

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© Sabine Jentsch

 

 

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Kontakt:

 

Dr. Sabine Jentsch

 

jentsch.sabine@web.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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